Die Weltgemeinschaft übt sich seit Jahrzehnten in der Treibhausgasbilanzierung. Und hartnäckig hält sich ein altes Glaubensbekenntnis:
"Je höher der gemessene Vorrat im Wald, desto besser fürs Klima."
Klingt vernünftig. Stehende Bäume enthalten Kohlenstoff – soweit unstrittig. Doch wie venezianische Kaufleute schon im Mittelalter lernten: Eine Bilanz zeigt Bestände, aber keine Leistungsfähigkeit. Und genau das ist das Problem. Wälder werden in der Klimabilanzierung wie in einer Mittelalter-Klosterbuchhaltung behandelt.
Die entscheidende Herausforderung ist aber nicht das fehlende Holzlager (im Wald), sondern die immer weiter steigende CO₂-Konzentration in der Atmosphäre. Dieser Trend lässt sich nur verändern durch:
weniger Emissionen (weltweit seit 20 Jahren weitgehend gescheitert), oder
eine höhere laufende Entnahme von CO₂ aus der Luft – und zwar zuverlässig, dauerhaft und in grosser Menge.
Wo das CO₂ am Ende lagert – ob in Bäumen, in Gebäuden, in Produkten – ist zunächst zweitrangig. Entscheidend ist vorab:
Es befindet sich nicht mehr in der Atmosphäre.
Das richtige Paradigma lautet deshalb:
"Je mehr laufende CO₂-Bindung ein Waldsystem erzeugt, desto besser."
Und hier beginnt die Diskrepanz zwischen Naturwissenschaft und Politik:
Junge, leistungsstarke Wälder entziehen der Atmosphäre deutlich mehr CO₂ als überalterte Bestände. Der Unterschied ist drastisch und bestens belegt. Während ein gut strukturierter Jungwald im Vollgasmodus arbeitet, verharrt ein Altbestand in einer Art ökologischem Leerlauf – wenig vital, zunehmend instabil und klimatisch kaum wirksam (abnehmende CO₂-Saugleistung).
Unter heutigen Bedingungen verschärft sich die Situation: Hitze, Schädlinge und Trockenstress bringen Altbestände zunehmend an ihre Grenzen. Sie stehen jahrelang mit geringer Saugleistung herum und brechen irgendwann zusammen. Und dann passiert Folgendes:
die jahrelang "verschenkte" CO₂-Aufnahme fehlt abrupt.
wertvolles Holz geht verloren, weil ein erhöhter Anteil als Ernteverlust und Totholz verfällt – und damit nicht langfristig gebunden werden kann.
die Etablierung leistungsfähiger Jungwälder verzögert sich – und damit jener Wälder, die das Klima morgen tatsächlich entlasten könnten.
das System verliert Zeit und Potenzial.
Im Vergleich zu einem leistungsstarken Jungwald heizt ein Altbestand das Klima faktisch an – nicht, weil er aktiv emittiert, sondern weil er kaum noch bindet, Potenziale liegenlässt und wertvolle Holzprodukteverwendung verhindert.
Das Resultat ist dasselbe: Die CO₂-Konzentration steigt schneller, als sie müsste.
Dabei geht die materialwirtschaftliche Ebene in der Bilanzierungswelt (vermeintlich "mangels Nachweisbarkeit") unter:
Wenn wir kein Holz nutzen, nutzen wir Stahl, Beton, Kunststoffe, Aluminium. Alles Rohstoffe, deren Herstellung enorme fossile Emissionen verursacht. Wird stattdessen Holz eingesetzt, können – je nach Anwendung – 1 bis 2 Tonnen CO₂ pro Kubikmeter an fossilen Emissionen vermieden werden. Diese Substitutionseffekte sind ökologisch enorm, politisch aber praktisch unsichtbar.
Puristen, die einen radikalen Konsumverzicht als Lösung fordern (und meist ihren eigenen Bedarf in einem Land mit hohem Wohlstand bereits gedeckt haben), haben grundsätzlich recht – theoretisch. Die Realität zeigt zuverlässig: Er findet nicht statt.
Damit bleibt Holz, einer der zentralen nachwachsende Rohstoffe, der unseren materiellen Bedarf bedient und das Klima entlastet, als Klimalösung unternutzt.
Fazit:
Die heutige Treibhausgasbilanzierung – und viele darauf aufbauende Zertifizierungssysteme – setzen systematisch die falschen Anreize. Sie bewerten Vorräte, nicht Leistung. Sie belohnen Stillstand statt Dynamik. Und sie verdecken den grössten möglichen Klimabeitrag des Waldes – die laufende Bindung plus die klimapositive Holzverwendung.
Eine zukunftsfähige Klimapolitik mit dem Wald muss deshalb:
das Vorratsdogma hinter sich lassen,
laufende CO₂-Bindung als zentrale Kennzahl einführen,
die Rolle von Holz in langlebigen Anwendungen und die Emissionsvermeidung anderer Rohstoffe vollständig einbeziehen (trotz Unfähigkeit der Zertifizierungssysteme, diese zu erfassen),
und Wald in einer sektorübergreifenden Betrachtungsweise - vorrangig mit der "Saugleistung" behandeln – nicht als statischen Bilanzwert.
Als Bewirtschafter und Berater folgern wir daraus eine nüchterne, robuste, wirtschaftlich wie ökologisch zwingende Handlungsempfehlung:
- konsequent (geplant und ambitioniert) verjüngen
- leistungsfähige, zukunftsfähige, markttaugliche Baumarten einsetzen
-
rechtzeitig ernten (konsequent klimasmarte Wälder schaffen)
-
das Holz in bestmögliche Verwendung (Kaskade) lenken
Waldinvestoren senken damit ihre Risiken, erhöhen die Ertragskraft, realisieren gebundenes Vermögen – und leisten den maximalen Klimabeitrag, der dringend notwendig ist.
Diese Sichtweise ist im Übrigen keineswegs exotisch. Der IPCC hält in seinen aktuellen Berichten unmissverständlich fest, dass die Klimawirkung des Waldes nicht allein im gespeicherten Kohlenstoff liegt, sondern in der Kombination aus laufender CO₂-Aufnahme, Holzverwendung und der Substitution fossiler und CO₂-intensiver Materialien. Die globalen Minderungsmodelle basieren explizit auf dieser Systemlogik: Waldwachstum plus Nutzung plus langfristige Holzspeicherung – nicht auf statischem Vorratsdenken.
In der Praxis der heutigen Waldprojekte ist diese Perspektive kaum anzutreffen. Viele Zertifizierungssysteme und Kompensationsmodelle verharren weiterhin im Paradigma der Bestandsbilanzierung und blenden jene Elemente aus, die der IPCC als zentrale Klimawirkungshebel einstuft: die Steigerung der laufenden Aufnahme, die Nutzung von Holzprodukten als langfristigem Speicher und der Ersatz emissionsintensiver Materialien.
Die performanceorientierte Betrachtung steht damit nicht im Widerspruch zu den IPCC-Grundsätzen – sie entspricht genau jener systemischen Wald- und Landnutzungslogik, die der internationale Klimarat seit Jahren einfordert, die aber in der Projektpraxis bislang nur selten Niederschlag findet.


